Geschichte einer Solophobie
Tanztheater von Sylvana Seddig
Tanzsylvanien ist der Ort an dem das Ich transzendiert wird. Solistisch natürlich. In Tanzsylvanien wird „WIR" groß getanzt und beherzt uniformer Individualismus betrieben, damit eine Tänzerin alleine das Kollektiv erreicht.
Immer mehr Menschen leben in der westlichen Welt allein. Grund genug also, sich des Themas auch auf der Bühne anzunehmen. Sylvana Seddig tut dies in ihrer neuen Produktion „TANZSYLVANIEN“, die gestern in Köln erstmals aufgeführt wurde.
Marina Schutte schuf ihr hierfür mit einfachen aber wirkungsvollen Mitteln eine vielseitig nutzbare Bühne in Barnes Crossing, indem sie der Szenenfläche einen beweglichen „Grenzzaun“, bestehend aus einem weissen Luftballon-Vorhang, verlieh, vor dem der Hauptdarsteller des Abends, ein Plasmabildschirm platziert war.
Jan Paul Werge, mittlerweile kein unbeschriebenes Blatt mehr in der Komponistenriege, die immer wieder durch ihre Kompositionen für das Tanztheater auf sich aufmerksam machen, schuf teils humorvolle, teils poetische Musikbilder, die dem Abend weitere wirkungsvolle Räume hätten eröffnen können. Sogar eine Nationalhymne wurde komponiert, die gleich mehrmals angestimmt wurde, um dem Land „TANZSYLVANIEN“ zumindest eine musikalische Identität zu verleihen, denn die Bewohner dieses Landes, dessen Namen wohl einer Verbindung aus TANZ und SYLVANA (oder doch nur dem Land der blutsaugenden Wesen?) entstammt, scheinen, so lernen wir an diesem Abend, eine Art gelber Luftballonwesen mit (zugegebener Maßen hübschen) blauen Beinen zu sein, die ansonsten über keine weiteren Identitätsmerkmale zu verfügen scheinen.
Viel Luft auf schlanken Beinen: schwingt hier etwa eine gar nicht mal so leise Kritik am derzeitigen Tanzschaffen mit, oder ist es doch die vorweggenommene Selbstkritik am neuen Produkt?
Dabei beginnt der Abend durchaus vielversprechend: Vom grossen, mittig vor den Luftballons platzierten Bildschirm aus beobachtet Seddig die Platz suchenden Zuschauer und schaut in Wahrheit nur hinter der Luftballon-Grenze auf sich selbst in ein Kamera Objektiv. Diese Selbstreflexion, die die Tänzerin im Verlauf des Stückes über die Grenzen zur Pornografie hinaus treibt, und die im Gegensatz dazu stehende gleichzeitige Angst vor dem Alleinsein (bis hin zur Solophobie), wie es viele Kinder (und auch Erwachsene zunehmend) noch haben, wären, insbesondere in einem Solotanzstück, vielleicht zu einer Herausforderung und zu einem spannenden Sujet geworden.
Wurde es aber nicht! Die immer wiederkehrenden Auftritte als Luft auf zwei Beinen bieten nach einmaligem Sehen keinerlei weitere Erkenntnis: „7894 Punkte!“ jubelt die Luft und dreht den Bildschirm mit der Spielstandanzeige zum Beweis der Wirklichkeit dem Publikum zu. „Was kann man von einem Tanztheater mehr erwarten, als eine Tänzerin, die den „We Score“ knackt?“, fragt sie die Zuschauer und die fragen sich vermutlich, warum sie darüber nicht vorher nachgedacht hat!
Kurz danach findet es sich erneut auf den Bildschirm und diverse Hautfalten und Ritzen starrend wieder, die aus allernächster Nähe untersucht und dabei abgefilmt werden (gute Kameraführung von Lukas Zerbst hinter dem Vorhang) und deren Bilder in Erinnerung rufen, dass hier die visuellen Unterschiede zu einem gerupften Huhn nur marginal sind.
Überspringt man die kurzen peinlichen Zwischenauftritte als Bürgerin „Tanzsylvaniens, dem Land mit den Bürgersteigen am Strand und in den Bergen und dem roten Elefant“, dann dürfen wir im Fernsehen auch ein wenig Tanz kucken, wie wir das sonst nur auf Facebook Postings irgendwelcher tanzbegeistert träumender Teenager „erleben“ dürfen. Wir leben in einer Welt, in der Jeder zu glauben scheint, man sei so grossartig, dass Er, Sie, Privates, unbedingt an die Öffentlichkeit und in der ganzen Welt verteilt gehört.
„Privat ist Diebstahl“ tönte die Luft und „packt Alle Eure Smartphones aus und schwört darauf, dass alles was heute Abend geboten wird in die Öffentlichkeit gelangt!“
Wären diese Gedanken zur geistigen Umweltverschmutzung nur konsequent behandelt und in Zusammenhang mit Alleinsein, Fiktion und Wirklichkeit gestellt worden, es hätte... Ach was!
„7894 Punkte We Score Punkte! Das sind genau so viele Freunde die es braucht, um die Grenze zur Realität aus den Augen zu verlieren...“ sprach die Luft und stürzte sich ins Publikum, küsste ein Dutzend davon, liess sich in Mitten der Zuschauer nieder, begann sich selbst Beifall zu zu jubeln, zu klatschen und zu trampeln und die Freunde stimmten ein....
Die Premiere von „Tanzsylvanien“ wurde ermöglicht durch die Unterstützung von
Barnes Crossing, Dock11/Eden****, ZAIK, Pumpenhaus Münster, Volksbühne Berlin
Gefördert durch Stadt Köln und Land NRW